Ein Jahr Zelenskyi – ein vorsichtiges Résumé

Dieser obenstehende Beitrag erschien in einer Facebookgruppe Ende April 2019 als Reaktion auf den Wahlsieg von Zelenskyi. Ein Jahr später ist es Zeit, eine erste Bilanz zu ziehen. Obgleich kein Fan von Zelenskyi, habe ich in einigen Punkten eine etwas andere Sicht auf die Dinge, als andere Ukrainefreunde und sehe auch Versäumnisse der Zivilgesellschaft, die thematisiert werden sollten.

Am 21. April 2019 errang der Schauspieler und Politsatiriker Volodymyr Zelenskyi einen Erdrutschsieg in der 2. Runde der ukrainischen Präsidentschaftswahlen. 73% der Wahlberechtigten stimmten für den Seiteneinsteiger und Politneuling.

Dieser Wahl gingen vier Jahre unter Poroshenko voraus. Dieser hatte im Frühjahr 2014 einen ähnlich überzeugenden Sieg errungen, mit den Wahlkampfaussagen, den Krieg im Donbas zu beenden, die Korruption im Land zu bekämpfen und eine Justizreform durchzuführen, um endlich Rechtsstaatlichkeit im Lande herbeizuführen. In beiden Punkten ist er gescheitert. Die Nichterfüllung des ersten Punktes – Beendigung des Krieges – kann ihm kein vernünftiger Mensch ernsthaft ankreiden: denn über die Beendigung des Krieges, wird woanders – nämlich im Kreml – entschieden.

Sein innenpolitisches Scheitern hingegen lässt sich nur schwer beschönigen. Nicht nur blieben die anfänglichen Reformen auf halben Wege stecken, sie wurden sogar bewusst seitens der Präsidialverwaltung boykottiert und hintertrieben. Die Reformer wurden aus der Regierung gedrängt oder warfen selber das Handtuch. Die Justizreform beschränkte sich auf Symbolpolitik, die Lustration von Funktionsträgern der Yanukovychzeit fand faktisch nicht statt, die Aufklärung der Maidanmorde wurde auf die lange Bank geschoben. Lediglich in Zusammenarbeit mit den westlichen Partnern konnte die Zivilgesellschaft mit viel Druck die eine oder andere Reform erzwingen.

So blieben der Erfolg, das Land im Jahr 2014, als es am Abgrund stand, zusammengehalten zu haben; zu einer Zeit, als die Welt noch gewillt war, die russischen Propagandadarstellungen eines innerukrainischen Bürgerkrieges zu glauben. Auf der Habenseite stehen ferner die Erlangung der Visafreiheit für Privatreisen in die Staaten des Schengenraumes und die Gründung und die kanonische Anerkennung der neuen Orthodoxen Kirche der Ukraine. Passend zu dieser Bilanz lautete Poroshenkos Wahlkampfmotto im Frühjahr 2019: „Sprache, Religion, Armee“. Slogans, mit denen man im Jahr 2019 allenfalls noch in Galizien einige Leute hinter dem Ofen hervorholen konnte. Korruptionsbekämpfung und Justizreform waren in Poroshenkos Wahlkampf kein Thema mehr.

Gegenüber diesem drögen Wahlkampf wirkte die Kampagne des Newcomers Zelenskyi frisch und unverbraucht. Auch er versprach – wie schon 5 Jahre zuvor Poroshenko, den Krieg zu beenden und die Korruption zu bekämpfen. Er wurde damit nicht nur gewählt, sondern errang einen Erdrutschsieg. Die Rolle des rechtschaffenen Fernsehpräsidenten Holoborodko, die Zelenskyi sehr überzeugend gespielt hatte, wurde von weiten Teilen der Bevölkerung auf den echten Zelenskyi übertragen. Sicherlich eine in weiten Teilen unrealistische Projektion, die aber zeigt, wie tief die Verachtung für die bisherige politische Klasse der Ukraine saß.

Der russischsprachige Zelenskyi wurde jedoch von der Zivilgesellschaft weithin abgelehnt. Die Beiträge von Zelenskyis Comedytruppe – neben einigen durchaus gelungenen Satirebeiträgen auch geprägt von postsowjetischen Flachwitzen, voller homophober und frauenfeindlicher Ans pielungen, waren der gebildeten, urbanen, prowestlichen Mittelschicht ein Graus. Man stelle sich vor, Stefan Raab würde hierzulande als Bundeskanzler antreten, ähnlich polarisierend wären auch hier die Reaktionen. Hinzu kam, dass Zelenskyi durch und durch in der russischen Welt sozialisiert war, seine Filmproduktionen auch in Russland Blockbuster waren und er somit als „unukrainisch“ und unpatriotisch galt. Seine aggressive Rhetorik gegenüber Poroshenko verbunden mit populistischen Ankündigungen, diesen für seine politischen Verfehlungen anzuklagen, weckten zudem schlimmste Assoziationen an die Yanukovychzeit.

So stand die Mehrheit der 73% von Anfang an einer unversöhnlichen Minderheit von 25% gegenüber, die den neuen Präsidenten rundweg ablehnte. Marionette von Kolomoiskyi, Clown, Putins trojanisches Pferd, waren nur einige der Bezeichnungen, die praktisch tagtäglich zu hören waren, während Zelenskyi eine absolute Mehrzeit im Parlament zustande brachte und den ersten Gefangenenaustausch realisierte, bei dem u.a. Oleg Sentsov und viele andere politische Gefangene aus russischer Geiselhaft freikamen.

Dies ist bemerkenswert angesichts einer Zivilgesellschaft, die es innerhalb von fünf Jahren nicht fertiggebracht hatte, einen eigenen, prowestlichen Reformkandidaten aufzubauen. Man möchte sich eine Situation ohne Zelenskyi in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen: ein Showdown zwischen Tymoshenko und Boyko in der 2. Runde wäre möglich geworden, Personen, die womöglich das endgültige Ende der Ukraine bedeutet hätten. Es ist fraglich, ob es zielführend ist, sich als Zivilgesellschaft nur über die Gegnerschaft zu einer Person zu definieren, statt in Form einer kritischen aber konstruktiven Distanz die notwendigen Reformen zu begleiten. Dass der letztlich gescheiterte Poroshenko von weiten Teilen der Zivilgesellschaft regelrecht zum Heiligen hochstilisiert wird, ist für mich persönlich nicht nachvollziehbar.

Denn die ersten 9 Monate von Zelenskyis Präsidentschaft waren durchaus erfolgversprechend: das Kabinett war jung und unverbraucht, es wurde ein emsiges Reformtempo vorgelegt. Nichts, was per se abzulehnen ist, auch wenn der damalige Leiter der Präsidialadaministration kein übermäßiger Sympathieträger war: ein skrupelloser Macher, mit wenig Berührungsängsten gegenüber der alten Yanukovychadministration, wie auch gegenüber den Oligarchen.

Auf schärfste Kritik stieß die äußert defensive Rhetorik gegenüber Russland, verbunden mit der Befürchtung, eine Kapitulation der Ukraine anzustreben und die Ukraine zu verraten. Hier habe ich persönlich eine etwas andere Meinung als viele andere: gerade Zelenskyis weicher, konzilianter Ton war meines Erachtens das richtige Mittel, Putin international vorzuführen. Galt bisher im Fall des Krieges in der Ukraine international die Devise: „einen Streit zwischen zwei Sturköpfen beendet man am besten durch Dialog und Gespräche“, so zeigt sich inzwischen deutlich, wie wenig Fortschritte das Reden mit Putin tatsächlich bringt. Putins Reaktionen auf Zelenskyis Friedensrhetorik und der zeitgleich stattfindenden Appeasementpolitik von seiten Emanuel Macrons waren die Ausgabe russischer Pässe im Donbas – ein klarer Verstoß gegen Minsk II, unzählige Beschüsse der ukrainischen Stellungen mit verbotenen Waffen, der Tiergartenmord von Berlin. Die Hoffnung, durch Reden mit Putin zum Erfolg zu kommen, hatten sich also nicht erfüllt. Jedem politischen Beobachter im Ausland muss also mittlerweile klar sein, wer Agressor und wer Opfer des Krieges im Donbas ist. Diplomatie ist immer auch ein Kampf um die Herzen. In diesem Kampf hat die Ukraine derzeit klar die Nase vorne. Vor diesem Hintergrund ist die aggressive Propaga vom blutrünstigen, faschistischen, regelmäßig russische Babys verspeisenden ukrainischen Bandera-Monster auch deutlich zurückgegangen. Offenbar erscheint den Spindoktoren aus dem Kreml das Verbreiten solcher Zerrbilder mittlerweile selbst zu absurd.

Die Fronten blieben also verhärtet. Es kam wie es kommen musste: in einer selbsterfüllenden Prophezeihung der Kritiker von Zelenskyi erlahmte das Reformtempo, die Regierung wurde umgebildet, der bisherige überaus integre Generalstaatsanwalt wurde ausgetauscht, die Reformer ersetzt durch zwar professionellere, aber auch farblose Funktionspolitiker.

Der neue Chef der Präsidialadministration erwies sich als grandioser Fehlgriff: eine faktische Anerkennung von Putins Marionetten im Donbas als Gesprächspartner, konnte nur in letzter Sekunde verhindert werden, dafür sind Korruptionsskandale – also genau das, wofür Zelenskyi eigentlich….ja eigentlich… angetreten ist – wieder an der Tagesordnung. Das Bankengesetz – eine Voraussetzung für weitere IWF-Hilfen – immer noch nicht in trockenen Tüchern. Schlussendlich sei die Frage erlaubt: wie möchte man einen Präsidenten einschätzen, der es nicht schafft, einen Innenminister Avakov, die wohl schlimmste Altlast aus Poroshenkozeiten, aus dem Amt zu entfernen.

So bleibt als vorläufiges Fazit: Die Kapitulation ist ausgeblieben, einige Reformen wurden angegangen, aber – wie schon unter Poroshenko – wird es weiterhin die bisherige Sandwichpolitik von Zivilgesellschaft im Zusammenspiel mit der internationalen Gemeinschaft geben müssen, um in kleinen Schritten den einen oder Fortschritt zu erreichen.

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