Die Enthüllungen des Aleksej Navalny

Seit nunmehr mehreren Monaten steht Aleksej Navalny im Blickpunkt der internationalen Medien. Da es sich bei Navalny um eine höchst umstrittene Person handelt, versuche ich in diesem Beitrag die Situation einzuordnen. Speziell Leute mit weniger Russlandexpertise soll es ermöglicht werden, sich mit diesem Text, diesen Videos und den weiterführenden Links ein realistisches Bild von den Geschehnissen zu machen. Für mich persönlich ist der russische Oppositionelle und Antikorruptionskämpfer Navalny kein übermäßiger Sympathieträger, aber er ist – aufgrund seiner Intelligenz, seiner Skrupellosigkeit und seiner Präsenz in sozialen Medien einer der ganz wenigen, die es mit Putin aufnehmen können. Das macht ihn für Putin zur Gefahr.

Die aktuelle Situation

Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Deutschland, wo Aleksej Navalny sich von einem Giftanschlag vonseiten des russischen Geheimdienstes erholte, wurde er noch am Flughafen in Moskau verhaftet. Dazu wurde eigens der Flug der Pobeda-Airline vom Flughafen Vnukovo nach Sheremetevo umgeleitet. Grund: In Vnukovo warteten Tausende Anhänger Navalnys. Vor Augen dutzender internationaler Journalisten erfolgte seine Verhaftung unmittelbar bei der Einreise, auf Grundlage von hanebüchenen Begründungen, aber nicht unerwartet angesichts des derzeitigen Zustandes des russischen Rechtsstaates.

Man möge es sich auf der Zunge zergehen lassen: Auf einen Oppositionellen wird seitens des Regimes ein Mordanschlag verübt, weshalb er sich für sechs Monate – teilweise im Koma liegend – in Deutschland aufhält. Während dieser Zeit hat er angeblich gegen Bewährungsauflagen verstoßen und sich nicht bei russischen Behörden – die Behörden des selben Staates, welcher den Mordanschlag verübt hatte – gemeldet. Was abgesehen davon auch ganz praktisch im Koma liegend ein vergleichsweise schwieriges Unterfangen darstellt. Diese Bewährungsauflagen existierten infolge eines Urteils, das vom europäischen Gerichtshof in Straßburg für null und nichtig erklärt wurde, was in Russland natürlich niemanden interessiert. Nach dessen Rückkehr wird er unverzüglich verhaftet und ihm ein Schnellprozess unter faktischem Ausschluss der Öffentlichkeit – statt in einem Gerichtsgebäude in einer Polizeistation – gemacht. Hier eine übersetzte Mitschrift des sogenannten Prozesses. Der Fall an sich ist schon eine Ungeheuerlichkeit. Beinahe noch schockierender ist aber, mit welcher Dreistigkeit hier offenkundigste Rechtsbeugung betrieben wird.

So unwichtig, wie in diesem Video von Putin dargestellt ist Navalny also für das russische Regime, dass selbst ein Flug umgeleitet werden muss.

Einige Hintergründe:

Aleksej Navalny, Jahrgang 1976, beendete 1998 sein Jurastudium und machte sich in den Folgejahren einen Namen als Rechtsanwalt in Antikorruptionsprozessen. Ab 1999 war er Mitglied der liberalen Jablokopartei, zeitweise sogar im Vorstand, wurde allerdings aufgrund nationalistischer Positionen im Jahre 2007 ausgeschlossen. Ob sein nachweislich zu beobachtender Nationalismus, oder aber die Tatsache, dass Parteigründer Grigorij Javlinskij keinen anderen neben sich duldete, ist umstritten. Tatsache ist aber, dass Navelny mehrfach die Kaukasusvölker als Kakerlaken bezeichnet hatte und er die Einführung der Visapflicht für die Völker Zentralasiens forderte. 2008 bezeichnete er die Georgier als Ratten und Tiflis als Rattenest, das auszurotten sein. Er war mehrfach Teilnehmer des russischen Marsches, der klar von Rechtsextremen dominiert war. Im Jahr 2013 trat er als Kandidat für die Moskauer Bürgermeisterwahlen an. Auch hier war Einwanderung eines seiner zentralen Themen. Mit 27% errang er – trotz eines höchst unfairen Wahlkampfes – einen Achtungserfolg. Die Krimannexion von 2014 hielt er allenfalls aus juristischen Gründen für falsch und machte sich damit in der Ukraine wenig Freunde. Dies ist um so bemerkenswerter, da Navalny selbst halber Ukrainer ist. Gerade was Fragen nach der Zugehörigkeit der Krim betrifft, gab er auch später keine gute Figur ab, wie dieses BBC-Hard-Talk Interview zeigt. Auch er dürfte die Krim nicht freiwillig zurückgeben, wenn er an die Macht kommen sollte. Lediglich ein erneutes Referendum stellt er in Aussicht.

Ab 2013 mäßigte er seinen Ton, ob aus taktischen Gründen, oder aufgrund einer tatsächlichen Distanzierung von Nationalismus, gilt als umstritten. In den Folgejahren deckte er spektakuläre Korruptionsfälle der Eliten auf, die er gekonnt über die sozialen Medien, immer von ihm persönlich auf höchst polemische Art kommentiert, unters Volk bringen konnte. So erschienen Videos über den Generalstaatsanwalt Tchaika, über Ministerpräsident Medvedev, über die Verwandschaft von Kremlsprecher Peskov. Alles Videos, die zeigen, in welch obzönem Luxus, die Eliten eines Landes leben, in dem es bereits 50km außerhalb von Moskau teilweise noch nicht mal fließendes Wasser gibt. In der Tat ist Russland eines der Länder mit der größten Vermögensungleichheit, welche gerade unter Putin massiv zugenommen hat. Dennoch wurde Navalny lange Zeit vom Regime wenig angetastet. Nach Verhaftungen wurde er zumeist nach wenigen Tagen wieder freigelassen, während etwa Boris Nemtsov 2015 auf offener Straße in unmittelbarer Nähe des Kreml erschossen wurden. Dies brachte Navalny den Verdacht ein, in Wahrheit Teil der Systemopposition (also Fakeopposition) zu sein, was nach heutigem Stand der Dinge sicherlich ausgeschlossen werden kann.

Mit diesen Enthüllungen machte sich Navalny wenige Freunde unter den Eliten. Mehrere politisch motivierte Prozesse gegen ihn waren die Folge. Mehrfach wurde er verurteilt, alle Urteile aber vom Europäischen Gerichtshof in Straßburg wieder aufgehoben. Spektakulär ist der Yves-Rocher-Prozess, bei dem es um angeblich veruntreute Gelder des französischen Kosmetikherstellers ging. In der Tat führte Aleksejs Bruder Oleg hier Logistikdienstleistungen durch, an denen er über Off-Shore-Firmen auf Zypern gut verdiente. Die von ihm verlangten Preise lagen aber noch unter dem marktüblichen Niveau, weshalb keine Schädigung von Yves Rocher festzustellen war. Dies wurde von der Konzernleitung auch mehrfach so bestätigt. Dennoch wurde Oleg zu 3,5 Jahren ohne Bewährung, Aleksej zu 3,5 Jahren mit Bewährung verurteilt. Auch dieses Urteil wurde durch Straßburg aufgehoben, was von russischer Seite aber ignoriert wurde. Aufgrund dessen angeblicher Straffälligkeit wurde Navalny die Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen 2018 verwehrt. Auch die Bewährungsauflagen bestanden weiter, wohlgemerkt aufgrund eines unrechtmäßigen Urteils. Russischer Rechtsstaat! Im Jahre 2017 wurde er Opfer eines Säureattentats, bei dem er mit einer grünen Flüssigkeit bespritzt wurde, die ihm beinahe das Augenlicht gekostet hätte.

Der Mordanschlag auf Navalny im Sommer 2020

Mit der Entwicklung der Smart-Voting-Strategie für die Regionalwahlen 2019 und 2020 und die Dumawahlen 2021 wurde er nun ernsthaft zur Gefahr für die Kremlpartei. Diese Strategie besagt, letztlich das kleinere Übel zu wählen, sprich alles nur nicht „Einiges Russland“. Und zwar taktisch so, dass die jeweils stärkste Partei gewählt wird. Vor dem Hintergrund dass Jedinaja Rossija zwar im allgemeinemen der stärkste Partei ist, jedoch selten die absolute Mehrheit bekommt, durchaus eine erfolgversprechende Taktik, auch wenn es für viele Liberale eine Horrorvorstellung sein dürfte, die Kommunisten zu wählen. Auf dem Rückflug von einer solchen Smart-Voting-Veranstaltung im sibirischen Tomsk brach Navalny ohnmächtig zusammen. Nur aufgrund einer Notlandung in Omsk und der sofortige Behandlung durch gewissenhafte Ärzte konnte der Tod Navalnys verhindert werden. Ein Desaster für den Kreml, aber die Existenz von verantwortungsbewussten Piloten und gewissenhaften Ärzten war in dem perfigen Plan des Kremls offenbar nicht einkalkuliert worden. Selbst eine kurzfristig erklärte Sperrung des Flughafen Omsk, hinderte den Piloten nicht daran, das Richtige zu tun. Er wurde ausgeflogen nach Deutschland und in der Charité Berlin behandelt. Mehrere Wochen lag er dabei im Koma. Die Ärzte stellten eine Vergiftung durch Novichok, eines verbotenen chemischen Kampfstoffes fest. Die russische Führung bestreitet dies zwar, es gilt aber als erwiesen.

Navalnys Enthüllungungen

Noch während des Aufenthaltes in Deutschland produzierte Navalny drei aufsehenerregende Videos. Im ersten rekonstruierte er minutiös, wie er über Jahre hinweg von Mitarbeitern des Geheimdienstes beschattet worden war. Selbst die Namen der Geheimdienstler wurden öffentlich. Hier das Video mit deutschen Untertiteln:

Der wohl spektakulärste Coup war Navalnys Telefongespräch mit seinem Mörder. Es gab sich als Vorgesetzter des FSB-Agenten aus und verlangte von ihm einen Bericht, was genau bei der Sache schiefgelaufen sei. Es ergab sich ein 45-minütiges Telefongespräch, welches ein nahezu lückenloses Geständnis enthält. Die große Zeit des KGB scheint also lange vorbei zu sein, wenn ein solches Maß an Dummheit möglich ist. In diesem Telefongespräch fand Navalny heraus, dass das Gift in seiner Unterhose vesteckt wurde, weshalb blaue Unterhosen zu einem neuen Symbol der russischen Opposition wurden. Putin wird fortan von Navalny nur noch als der Unterhosenmörder bezeichnet. Hier das Telefongespräch, leider nur mit russischen Untertiteln.

Mittlerweile über 100 Mio Aufrufe hat Navalnys jüngster Film, veröffentlicht am Tag nach seiner Verhaftung. Der Film wurde in Deutschland produziert und zeigt Putins Korruptionsnetzwerke auf, die bereits in den 90er Jahren entstanden waren. Wenn also heute immer wieder die Legende verbreitet wird, Putin habe mit der Korruption der Jelzinzeit aufgeräumt, so muss gesagt werden: genau Leute wie Putin und sein Umfeld waren symptomatisch für exakt diese Korruption. Die angebliche Korruptionsbekämpfung Beginn der Nullerjahre war also nichts anderes eine „Marktbereinigung“, also eine Beseitigung potenzieller Konkurrenten des Putinclans. Dazu zählten Leute wie Beresovskij oder Chodorkovskij, die hinter Gitter gebracht oder außer Landes getrieben wurden, sicherlich keine Waisenknaben, aber mit der Bekämpfung von Korruption hat das alles rein gar nichts zu tun, sondern eher mit der Monopolisierung der Korruption. Darin liegt auch ein entscheidender Unterschied zur Ukraine, denn dort herrschte immer ein gewisser Pluralismus der Oligarchen, weshalb in der Ukraine nie funktionsfähige autoritäre staatliche Strukturen entstehen konnten. Denn immer dann, wenn dies versucht wurde und einer der Clans zu übermütig wurde, gab es Widerstand seitens der anderen Oligarchen. Letzlich eine Voraussetzung dafür, dass letztlich sowohl die Orangene Revolution 2004 und der Euromaidan 2013/14 erfolgreich verlief. Eine mit russischen Verhältnissen vergleichbare Machtvertikale hat es in der Ukraine nie gegeben, auch wenn Yanukovych kurz davor war, eine solche zu schaffen. Der Maidan kam also zum letztmöglichen Zeitpunkt.

Doch zurück zu Russland und Navalny. In dem Film enthüllt er lückenlos das Korruptionsnetzwerk um einen luxuriösen, ab 2007 errichteten Palast an der Schwarzmeerküste. Die Anlage hat Milliardenbeträge gekostet und auf Grundlage von Fotos und 3D-Rekonstuktionen konnte dessen Inneres gezeigt werden: die Eingangshalle, die Bar, das Schlafzimmer, das Kasino. So prunkvoll, wie es sich für einen absolutistisch regierenden Zaren gehört. Hier der Film mit deutschen Untertiteln

Seit der Veröffentlichung überschlagen sich die Ereignisse in Russland. Hunderttausende gehen seitdem auf die Straße, Zehntausende wurden verhaftet. Navalny wurde in einem skandalösen Prozess – wegen der Nichteinhaltung der Bewährungsauflagen zu 3 1/2 Jahren Haft verurteilt. Hier Navalys Rede vor Gericht in deutscher Übersetzung.

Mit seinen Enthüllungen hat er Putin herausgefordert. Die Macht im Kreml mag die Polizei und die Justiz unter sich haben. Die besseren Argumente haben sie nicht. Es bleibt spannend, wie lange ein Präsident und seine mafiöse Clique noch gegen das Volk regieren kann.

PS: (04.02.2021)

Der Arzt, der Navalny im Omsker Krankenhaus behandelt hatte, stirbt im Alter von 55 Jahren an plötzlichem Herzversagen. Zufälle gibt es! Mal sehen, wie lange der Pilot, der die Notlandung in Omsk vollführte noch zu leben hat…

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