Mit der Annexion der Krim setzte ein nie gekannter Informationskrieg von Seiten der russischen Regierung und Medien ein, der – hoch professionell organisiert – vor allem im westlichen Ausland die Stimmung zugunsten Russlands beeinflussen sollte und bisweilen mit abenteuerlichen Behauptungen und Unwahrheiten arbeitete und es immer noch tut. Der folgende Faktencheck wurde bereits auf einer den Grünen nahestehenden Website veröffentlicht (https://grueneosteuropaplattform.wordpress.com) und wird nun in überarbeiteter und gekürzter Form für diesen Blog übernommen.
In Kiew ist/war eine faschistische Junta an der Macht
Der Begriff „Junta“ stammt aus dem Spanischen und wird vor allem im Zusammenhang mit Militärputschen und deren Anführern in Lateinamerika verwendet. In der Ukraine gab es weder einen Militärputsch noch ist oder war eine Militärregierung an der Macht.
Der Kampfbegriff „Faschismus“ zieht sich wie ein roter Faden durch die sowjetische Geschichte: So wurde in Berlin 1953 eine „faschistische
Konterrevolution“ niedergeschlagen und die Berliner Mauer zum „Antifaschistischen Schutzwall“ erklärt. Auch bei der Niederschlagung
der Aufstände in Polen, Ungarn und des Prager Frühlings wurde eine angebliche faschistische Bedrohung bekämpft. In Wahrheit zeigt das Russland von Vladimir Putin mittlerweile selbst faschistoide Züge, insbesondere im Hinblick auf die „Eurasische Ideologie“, wie sie von dem sehr einflussreichen Hochschulprofessor Aleksander Dugin vertreten wird. Dass im Kampf gegen die ukrainische „Faschisten“ quasi eine Verbrüderung zwischen Putin und den europäischen Rechtsparteien,
etwa Front National, Jobbik, FPÖ und auch AfD, stattgefunden hat, sollte zu denken geben.
Die faschistische Junta von Kiew hat die russische Sprache verboten
Diese Behauptung ist so nicht haltbar. Es gab zwar unmittelbar nach der Revolution einen Parlamentsbeschluss zur Abschaffung des unter äußerst dubiosen Umständen zustande gekommenen Sprachgesetzes der Yanukovych-Regierung, ein Gesetz, das die ukrainische Sprache im Osten des Landes seit 2012 massiv gefährdete (selbst der Bestand ukrainischsprachiger Schulen war bedroht). Der Parlamentsbeschluss
gegen dieses diskriminierende Gesetz hatte also durchaus seinen Sinn, der Zeitpunkt war jedoch extrem ungeschickt gewählt. Die lauteste Kritik an dem Beschluss kam erstaunlicherweise jedoch nicht etwa aus dem Osten des Landes, sondern von Lemberger Intellektuellen, mit der Forderung, zuerst die Einheit des Landes wiederherzustellen und dann die Sprachenfrage neu zu definieren. Der Parlamentsbeschluss wurde vom Übergangspräsidenten Turchynov nicht unterzeichnet, und so war das alte Gesetz der Yanukovych-Zeit noch mehrere Jahre in Kraft bis es gegen Anfang 2019 durch ein neues Bildungsgesetz zur Förderung der ukrainischen Sprache im Schulunterricht ersetzt wurde. Die Behauptung, die russische Sprache sei verboten worden oder auch nur in irgendeiner Weise bedroht, ist also ohne jeden Wahrheitsgehalt. Nach wie vor schreibt ein Großteil der Presse und senden viele Fernsehsender in russischer Sprache. Selbst Kiew, das Herz der Maidanrevolution, ist zu zwei Dritteln russischsprachig.
Die Krim war schon immer russisch
Die Zeitspanne zwischen 1783, dem Jahr der Eroberung der Krim durch Katharina der Großen,und dem Jahr 1954 als „schon immer“ zu bezeichnen, offenbart ein historisches Kurzzeitgedächtnis.
Vor 1783 war die Krim tatarisch bzw. türkisch, und während der Zarenzeit gab es keinen russischen Nationalstaat, sondern allenfalls Gubernias, also Verwaltungsbezirke, deren Grenzen nicht identisch mit der heutigen ukrainisch-russischen Grenze waren. So war Sumy Teil der Gubernia Kursk, Belgorod zählte zu Kharkiv und Taganrog zu Jekaterinoslav (dem heutigen Dnipro). Die Krim war zu dieser Zeit kein autonomes Gebilde, sondern Teil der Gubernia Tavriya, die auch weite Teile der heutigen
Südukraine umfasste. Folgt man der russischen Argumentation, müsste man z. B. auch Warschau, das zu einer ähnlichen Zeit wie die Krim an das Zarenreich angegliedert wurde, ebenfalls als „schon immer russisch“ bezeichnen. Zu sowjetischer Zeit wurde die Krim zwar zu einem Teil der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik, hatte aber einen Autonomiestatus. Die Angliederung an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik im Jahr 1954 erfolgte aus simplen geografischen Überlegungen. Die gesamte Infrastruktur, alle Verkehrs- und Siedlungsströme verbinden die Krim mit dem ukrainischen Festland. Das zeigt ein einfacher Blick auf die Landkarte. Die Darstellung der Ukrainer Chruschtschow habe die Krim der Ukraine „einfach so“ geschenkt, ist eine grobe Vereinfachung. Chruschtschow war Sowjetbürger durch und durch, stammte ursprünglich aus Westrussland und kam erst als Jugendlicher nach Donetsk. Ihm einen ukrainischen Nationalismus zu unterstellen, geht völlig an der Realität vorbei.
Die Bevölkerung der Krim besteht mehrheitlich aus Russen
Ethnische Russen stellen nach einer Volksbefragung im Jahr 2001 rund 58 % der Bevölkerung. Darunter befinden sich allerdings auch viele nach 1992 geborene Menschen, die von Geburt an ukrainische Staatsbürger waren. Zudem ist der Unterschied zwischen Ukrainern und Russen in dieser Region marginal: Faktisch alle Ukrainer auf der Krim sprechen russisch und gehören der orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchates an. Hier einen Unterschied zu konstruieren, ist letztlich absurd. Auf der Krim hat es auch nie größere Ukrainisierungsbemühungen seitens der Zentralregierung gegeben, und die russische Sprache hatte Verfassungsrang. Die letzten freien Umfragen vom Herbst 2013 ergaben eine Mehrheit von 60 % für den Verbleib bei
der Ukraine. Mit Wahlergebnissen im einstelligen Bereich hatten separatistische Parteien in der Vergangenheit nur eine sehr geringe Wählerbasis. Auch die Tataren, zuletzt wieder rund 15 % der Bevölkerung, standen immer loyal zur Ukraine. Den Ureinwohnern sollte man zumindest ein Mitspracherecht über den Status der Halbinsel einräumen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Mit der Annexion hat eine erneute Verfolgung und Entmündigung der Krimtataren eingesetzt.
Gemäß Selbstbestimmungsrecht der Völker ist die Angliederung der
Krim an Russland völlig legitim
Das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes steht immer in Wechselwirkung mit dem Prinzip der territorialen Integrität des Staates. Dieses Prinzip ist eine wichtige Garantie für Sicherheit, Stabilität und Frieden. Sollte also in einem Teilgebiet eines Staates der Wunsch nach Unabhängigkeit bestehen, muss ein Prozedere für ein nach internationalen Grundsätzen abgehaltenes Referendum entwickelt werden. Grundvoraussetzung dafür ist die Berücksichtigung elementarer demokratischer Standards und verfahrensrechtlicher Vorgaben – die am 16. März 2014 bei dem Referendum über den Status der Krim nicht einmal ansatzweise eingehalten wurden:
Auf der Krim war es im Februar/März 2014 vor dem Hintergrund des Euromaidan zu einem Staatsstreich einer bis dato völlig irrelevanten politischen Kraft; dabei spielten Bemühungen um eine friedliche Konfliktlösung, z. B. Autonomieregelungen, Rechte für sprachliche Minderheiten und eine verstärkte lokale Selbstverwaltung, überhaupt keine Rolle. Die Behauptung Russlands, seine bedrohten Landsleute hätten geschützt werden müssen, entbehrt jeder Grundlage, denn eine Unterdrückung oder Gefährdung gab es auf der Krim nicht. Die Angliederung der Krim an Russland ist also weder legal noch in irgendeiner Weise legitim.
Im Kosovo hat der Westen das Völkerrecht auch gebrochen
Die Situation im Kosovo war mit der Situation auf der Krim nicht vergleichbar. Zum einen ist die Bevölkerungsstruktur im Kosovo eine völlig andere als auf der Krim: Dort stellen ethnische Albaner mit 90 % eine überaus große Bevölkerungsmehrheit.
Zudem ging dem Konflikt im Kosovo eine sukzessive Abschaffung jeglicher Autonomie voraus, und der serbische Diktator Milosevic hielt während der 1990er Jahre den gesamten Balkan mit permanenten Kriegen in Atem. Im Kosovo gab es eine fest in der Bevölkerung verankerte Rebellenbewegung, ein Bürgerkrieg stand kurz bevor. Nach dem hoch umstrittenen, da ohne UNO-Mandat erfolgten Kosovokrieg kam der Kosovo zunächst unter eine mehrjährige internationale Verwaltung, der die Unabhängigkeit folgte. Von einer Angliederung des Kosovo an das albanische Mutterland ist im Übrigen bislang noch nichts bekannt geworden.
Das Volk der Krim hat abgestimmt und sich für Russland entschieden
Das sogenannte Referendumhat diesen Namen nicht verdient, denn der Status Quo stand nicht zur Abstimmung und die Stimmabgabe fand unter Anwesenheit schwer bewaffneter Kämpfer statt. Unabhängige Wahlbeobachter wurden nicht zugelassen, es gab keine amtlichen Wählerverzeichnisse, ukrainische TV-Kanäle waren zum Zeitpunkt der Abstimmung bereits abgeschaltet, die Ukrainebefürworter durften nicht einmal Plakate kleben und wurden auch sonst eingeschüchtert, Mehrfachabstimmung war möglich. Man gab sich bei der Verkündung des Ergebnisses noch nicht mal die Mühe, die Ergebnisfälschung rechnerisch plausibel zu gestalten: In Sevastopol wurde von Journalisten aus den veröffentlichten Zahlen eine Zustimmungsrate von 123 % ermittelt. Das „amtliche“ Ergebnis lautete: 96 % der Abstimmenden der Halbinsel seien für den Anschluss an Russland gewesen, bei einer Wahlbeteiligung von 86%. Unabhängig davon war das Referendum mit der ukrainischen Verfassung nicht vereinbar und somit auch formaljuristisch irrelevant. Auch der relativ autonom agierende Menschenrechtsrat der Russischen Föderation veröffentlichte recht bald nach dem Referendum glaubhaftere Zahlen: Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 30 % hätten ungefähr die Hälfte der Teilnehmer für Russland votiert.